Widersprüche und Schwächen in der Erkenntnistheorie von Maturana, Varela et al. (Santiago-Theorie)


Maturana, Varela et al. versuchen zu zeigen, dass die Welt und das wahrnehmende Subjekt nicht unabhängig voneinander, also objektiv, gegeben sind, dass Wahrnehmung demzufolge nicht die Repräsentation der Welt in unserem Geist ist, sondern dass wir die Welt im Akt des Wahrnehmens hervorbringen oder inszenieren, bzw. "konstruieren" (daher die allgemeine Bezeichnung "Konstruktivismus"). Die Santiago-Theorie leugnet also eine Wirklichkeit, die entdeckt werden kann. Es gibt, so die Theorie, keine Wirklichkeit und keine Entdeckung, sondern nur Hervorbringung und Hervorgebrachtes.


Der performative Widerspruch

Wenn eine Anschauung etwas negiert oder leugnet, die Negation jedoch selbstbezüglich ist und dadurch der Anschauung selbst den Boden entzieht, so verfängt sich die Anschauung in einem Widerspruch, worin sie sich selbst aufhebt (zumindest in ihrer Allgemeingültigkeit) - wir sprechen vom "performativen Widerspruch".

Der performative Widerspruch der Santiago-Theorie: Wenn Erkennen nur Hervorbringen ist, so ist auch alles, was Maturana, Varela et al. erkannt und in der Santiago-Theorie zusammengefasst haben, nur Hervorbringung. Die Santiago-Theorie beschreibt also nicht, wie die Welt wirklich ist, sondern sie ist eine Konstruktion, die keinen Anspruch erheben kann, etwas Gültiges über die Welt auszusagen.
Zusammengefasst: Wenn alles Erkannte konstruiert ist, dann ist auch die Santiago-Theorie konstruiert.
Die Santiago-Theorie nimmt natülich von sich selbst nicht an, dass sie eine Konstruktion ist, sondern eben eine gültige, ja sogar die beste Beschreibung des Erkennens. Doch:


Der narzisstische Widerspruch

Wenn eine Anschauung etwas negiert oder leugnet und gleichzeitig das Geleugnete für sich selbst in Anspruch nimmt, so nennen wir diese Haltung (in logischer Hinsicht) "narzisstisch" bzw. sprechen wir vom "narzisstischen Widerspruch".

Der narzisstische Widerspruch der Santiago-Theorie: Dass es keine Wirklichkeit gibt, das ist jene tiefere Wirklichkeit, die die Santiago-Theorie entdeckt hat. In Tat und Wahrheit lässt sich dann und nur dann sinnvoll behaupten, die Gegebenheit der Welt sei eine Täuschung, wenn wir eine tiefere Gegebenheit entdecken, von der wir diese Täuschung unterscheiden können, die mächtiger - wirklicher! - ist als die bisherige und darum fähig, deren täuschenden Charakter zu entlarven. Kurz: Erkennen ist Hervorbringen, aber die Erkenntnis, dass Erkennen Hervorbringen ist, ist selber kein Hervorbringen, sondern ein Entdecken, wie es wirklich ist.
Zusammengefasst: Die Santiago-Theorie leugnet eine Wirklichkeit, die wir entdecken können, nimmt aber genau das für sich selbst in Anspruch: die Wirklichkeit entdeckt zu haben. Die Santiago-Theorie leugnet, dass Erkennen das Repräsentieren einer gegebenen Welt sei, nimmt aber genau das für sich selbst in Anspruch: eine Repräsentation des Erkennens zu sein.
Fazit: Das meiste, was wir für gegebene Welt bzw. unsere repräsentative Wahrnehmung dieser gegebenen Welt halten, ist wohl tatsächlich von uns selbst inszeniert. Doch es gibt ein Entdecken, wie es wirklich ist - sonst könnten wir nicht herausfinden, dass Erkennen auch Hervorbringen ist. Es gibt also Wirklichkeit und sie kann auch gefunden oder entdeckt werden (allerdings nur in der eigenen Erfahrung. Mehr dazu im Buch).

Der zentrale Schwachpunkt der Santiago-Theorie: Hervorgebrachtes kann selber nichts hervorbringen; umgekehrt kann das, was (anderes) hervorbringt, selbst nicht hervorgebracht sein, das heisst es ist "objektiv existent" oder "wirklich". Und das ist auch nur logisch: Hervorbringen = Wirken  -  was wirkt, ist wirklich.


Referenzen:

Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis, Scherz, Bern/München/Wien 1987
Francisco J. Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch: Der mittlere Weg der Erkenntnis, Goldmann, München 1995
Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit, Piper, München 1997
Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, Piper, München 1991
Paul Watzlawick, Franz Kreuzer: Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit, Piper, München 1995


[zurück zur Startseite]